Das vergessene Thomasevangelium


Im Jahr 1946 entdeckten ägyptische Bauern in einem Grab in Nag Hammadi bei Luxor 49 religiöse Texte in koptischer (mittelägyptischer) Sprache aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Darunter befand sich ein Traktat, das bis dahin nur dem Namen nach aus den Schriften frühchristlicher Autoren bekannt war: Das Thomasevangelium. Dieser Text hat unsere Kenntnisse über die authentischen Lehren Jesu und die frühe Jesu-Bewegung revolutioniert.

Das verlorene Ur-Evangelium
Die moderne kritische Bibelforschung entdeckte bei der Analyse des Neuen Testaments, das den Evangelisten Lukas und Matthäus eine Sammlung von Sprüchen Jesu vorgelegen haben muss, die den anderen Evangelisten nicht bekannt war. Diese Spruchsammlung war die älteste Schrift, die unter den frühen Jesus-Anhängern zirkulierte, gleichsam das verlorene „Ur-Evangelium“, das die Aussagen Jesu bewahrte. Das Thomasevangelium ist ein solches Spruchevangelium. Es handelt sich um 114 lose aneinander gereihte Aussagen. Sie zeigen erstaunliche Übereinstimmungen mit der aus der philosophischen Analyse der bekannten Evangelium rekonstruierten Spruchsammlung.

Die authentischen Worte Jesu
Das Thomasevangelium ist älter als jene vier Evangelien, die das Neue Testament ausmachen, und es bewahrt zahlreiche Sätze, die Jesus wohl tatsächlich gesagt hat und die ihm nicht von den Evangelisten in den Mund gelegt wurden. Dieser Umstand veranlasste eine einflussreiche Vereinigung von Wissenschaftlern, die Mitglieder des Jesus-Seminars am Westar Institue im kalifornischen Sonoma, das Das Thomasevangelium für die Einschätzung von authentischen Aussagen Jesu als fünftes Evangelium gleichberechtigt neben den kanonischen Evangelien zu behandeln.

Buddhistische Quellen
Erstaunlicherweise zeigen die Aphorismen aus dem Das Thomasevangelium Parallelen zum östlichen, besonders zum buddhistischen Gedankengut. Den deutschen Forschern Dr. Elmar R. Gruber und Holger Kersten gelang in ihrem Buch „Der Ur-Jesus“ (1994) der Nachweis, das Jesus tatsächlich von buddhistischen Lehren beeinflusst war.
„Wer aus dieser Welt scheidet, ohne seine eigentliche Welt erkannt zu haben, dem nützt diese, weil sie nicht erkannt ist, so wenig, wie die der Veda (religiöse Weisheit Indiens), den man nicht studiert hat oder eine Arbeit, die man unterlassen hat“. Diese Aussage aus dem hindusitischen Buch „Brihadaranyaka Upanishad“ findet ihr Echo im Thomasevangelium (ThEv 67). Dort vermittelt Jesus seinen Schülern den zutiefst buddhistischen Auftrag, ohne Bindungen an die Welt, ohne Besitz und Haus als Wandermönche zu leben: „Werdet Wanderer“, (ThEv 42).

Schriftvergleiche
Achtsamkeit zu üben bedeutet dem Buddhisten, sich alle Tätigkeiten, auch die alltäglichen automatischen Funktionen wie Atmen oder Gehen, bewusst zu machen und die meditative Haltung eines reinen Beobachters einzunehmen. Das Satipatthana („Vier Erweckungen der Achtsamkeit) ist die grundlegende Meditationsart. Konsequente Achtsamkeit soll alles Undeutliche in Klarheit, alles Unbewusste in Bewusstheit und jede Unkenntnis in Einsicht umwandeln. Im Das Thomasevangelium wird diese Haltung ebenfalls angesprochen. Auch Vergleiche mit Licht und Finsternis, die bei dem Christen eine Rolle spielen (ThEv 61), stehen in Übereinstimmung zu buddhistischen Quellen: „Der Weise soll den Weg der Finsternis aufgeben und den hellen Weg verfolgen“ (Dharmapada 6,12) und „Diese Welt ist in Finsternis gehüllt; wenige darin können sehen. Wenige gehen in das Reich der Glückseligkeit wie Vögel, die aus dem Nest entkommen“. (Dharmapada 13,8)

Aus dem Thomasevangelium
„Wer die Erklärung dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken.“ (ThEv 1)
„Erkenne, was vor deinem Angesicht ist und was die verborgen ist, wird sich dir offenbaren. Denn es gibt nicht Verborgenes, das nicht offenbar würde.“ (ThEv 5)
„Liebe deinen Bruder wie deine Seele, hüte ihn wie deinen Augapfel.“ (ThEv 25)
„Wenn das Fleisch wegen des Geistes entstanden ist, ist es ein Wunder. Wenn aber der Geist wegen des Körpers entstanden ist, ist ein Wunder der Wunder. Aber ich wundere mich darüber, wie dieser große Reichtum in dieser Armut Wohnung genommen hat..“ (ThEv29)
„Wenn man euch fragt: Woher seid ihr gekommen? Antwortet: Wir sind aus dem Licht gekommen, von dort wo das Licht durch sich selbst entstanden ist.“ (ThEv 50)
„Deshalb sage ich Dir: Wer leer ist, wird sich mit Licht füllen. Wer aber geteilt (in die Vielheit) ist, wird sich mit Finsternis füllen.“ (ThEv 61)
„Jesus sprach: Und würde einer das All erkennen, dabei aber sich selbst nicht erkennen, so würde er die Erkenntnis des Ganzen doch verfehlen.“ (ThEv 67)
„Sucht auch ihr nach dem Schatz, der nicht vergeht und dort ist, wohin keine gierigen Motten dringen und wo kein Wurm ihn zernagt.“ (ThEv 76)